Peter Schreier
Der Evangelist schwelgt.
Das Album von Peter Schreier aus dem Jahr 1977 erstmalig auf CD.
Tenöre trauen sich oft was. Sie sind, vielleicht noch vor den Sopranistinnen, die Sänger mit dem größten Selbstvertrauen.
Viel tausend Wunder winken, verspricht Peter Schreier (29.07.1935-25.12.2019) schon im Eröffnungstitel dieser ungewöhnlichen Sammlung. Da kommt gespannte Erwartungshaltung auf.
Gleich danach wird ein kleines Chopinstück, mit dem so manch ein mitteltalentierter Klavierschüler die Verwandtschaft verzückte, bearbeitet und mit dem Text von Ernst Marischka versehen. In den 1930ern war es ein Herzstück aus dem Musiker-Melodram mit dem klingenden Namen „Abschiedswalzer“. Und was man mit Chopins Etüde anstellen kann, wie man diese mit großer Stimme veredelt, dass zeigt Schreier und dazu braucht es unbedingt Tenor-Selbstvertrauen.
Spätestens bei Granada schunkelt man sanft mit und freut sich schlicht über dieses Sahnehäubchen der Unterhaltungsmusik. Das Große Rundfunkorchester Berlin unter Robert Hanell schwingt die Kastagnetten und betört auch sonst mit leinwandbreitem Sound, in dem man sich treiben lassen kann. Es muss nicht immer Bayreuth sein! Schön singt man auch beim Anblick der Sierra Nevada. Und wer nimmt diese hohen Töne sonst so wunderbar?
Schreier hat diese bunte Tüte nicht erst zum Abschied oder Ende seiner Karriere aufgenommen, sondern mittendrin. Zwei Jahre nach seinem Hit Peter Schreier singt Weihnachtslieder, dem erfolgreichsten Klassik-Tonträger der DDR, versucht sich der Sänger erneut an populärem Material und mixt offensichtlich seine Favoriten aus dem nicht ganz so ernsten Repertoire zusammen. Operette, klingende Bearbeitungen bekannter Melodien, Opernhighlights. Es hat, neben dem unbestrittenen Unterhaltungswert, durchaus auch einen Neuheitswert den ehemaligen Knabenalt aus dem Kreuzchor einen umwerfenden Kalman (Grüß mir die Süßen, die reizenden Frauen) singen zu hören, ihn in kleinen Liedperlen (Frühlingszeit) vom lyrischen Sänger zum strahlenden Helden aufsteigen zu sehen. Es ist ein bisschen so, als würde man dem ernsten und einmaligen Bach-Evangelisten beim liebsten geheimen Hobby (Vaghissima Sembianza) zuhören.
Anders als viele Tenöre seiner Ära weiß Schreier nämlich genau, was seine Stimme kann und was nicht. Und auch, wann es Zeit ist, aufzuhören, so sprach der Tenor bei seinem Karriereende 2005: »Es ist im Alter schwieriger, einen Ruf zu verteidigen, und ich möchte nicht, dass die Leute irgendwann sagen: Das hätte er mal besser gelassen.«
Aber nach vielen Momenten, in denen die, auch in höchster Höhe, weich pulsierende Stimme Schreiers, hier in ganz neuen musikalischen Landschaften erklingt, kann man sagen: Gut, dass es dieses Dokument aus dem Jahre 1977 gibt!