Boulanger Trio
EIN PLATZ FÜR KREATIVE FRAUEN!
Frauen in der Musik – das ist ein Thema, dem sich die drei Musikerinnen des vielfach ausgezeichneten Boulanger Trios naturgemäß immer wieder aufs Neue konfrontiert sehen. Nicht nur in Bezug auf sich persönlich, sondern auch auf die musikalische Arbeit von Komponistinnen. Karla Haltenwanger, Pianistin des Ensembles erklärt: „Immer wieder begegneten uns diese fantastischen Komponistinnen, die zum Teil kaum bekannt waren oder immer noch kaum bekannt sind. Diese Musik ist unglaublich reichhaltig und sehr wichtig zu hören“. Und so findet sich auf dem neuen Album des in Hamburg und Berlin beheimateten Klaviertrios ausschließlich von Frauen komponierte Musik. „Who’s afraid of…?“ ist das zwölfte Album des Boulanger Trios und das dritte, welches beim Label Berlin Classics veröffentlicht wird. Es entstand in Kooperation mit dem Deutschlandfunk.
„Auf der Suche nach einem Titel für unser Album dachten wir über starke Frauen nach, die in den letzten Jahrhunderten die Gesellschaft geprägt haben. Da fiel uns natürlich sofort Virginia Woolf ein.“ sagt Ilona Kindt, Cellistin des Trios. „Für Edward Albee schwingt im Titel seines 1962 veröffentlichten Theaterstücks „Who’s afraid of Virginia Woolf?“ die Frage mit, wer sich traut ein Leben ohne Illusionen zu leben. Unser Albumtitel ist also nicht nur als Hommage an Virginia Woolf zu verstehen. Er steht auch für den Mut von Künstlerinnen und Künstlern, sich zu ihrem Werk zu bekennen und damit auf die Bühne zu treten“. Der Titel ist darüber hinaus eine Anspielung auf das Essay „A Room of One’s Own“, das Virginia Woolf 1929 veröffentlichte. Im Booklet bezieht sich die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld darauf und spricht von Handlungsspielräumen, die sich kreative Frauen immer wieder neu erarbeiten müssen.
Neun eindrucksvolle Werke verschiedener Komponistinnen aus einer Zeitspanne von 450 Jahren beleuchten, welch unterschiedliche Möglichkeiten Frauen in ihrer jeweiligen Zeit auszuschöpfen vermochten. Die Komponistin Elfrida Andrée (1841-1929) arbeitete beispielsweise entgegen den damaligen gesellschaftlichen Konventionen als Organistin an der Kathedrale von Göteborg. Bis heute ist sie damit die einzige Frau Schwedens, die als Organistin einer Domkirche tätig war. Dagegen war es Fanny Hensel (1805-1847) nicht möglich, aus dem Schatten ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy zu treten. Die Familie ließ die beiden Geschwister musikalisch ausbilden, konnte sich allerdings nur für den Sohn eine Karriere vorstellen. Und das, obwohl die Tochter ebenso talentiert war wie ihr Bruder. Sie komponierte über 460 Werke und absolvierte erfolgreich unzählige Konzerte als Pianistin und Dirigentin. Überraschenderweise hat es aber schon weit vor Fanny Hensel und Elfrida Andrée Frauen gegeben, die konsequent einen künstlerischen Weg verfolgen konnten. Vittoria Aleotti (1575-1646) beispielsweise hat auf Grund der Unterstützung ihres Vaters ihr ganzes Leben der Musik widmen und sogar ihre eigenen Madrigale veröffentlichen können. Umso erstaunlicher ist, dass die Werke der Komponistin Lili Boulanger erst in den Sechzigerjahren der breiten Öffentlichkeit bekannt wurden, obwohl ihre Schwester, die bedeutende Musikpädagogin Nadia Boulanger, sich nach dem frühen Tod ihrer Schwester ein Leben lang für deren Werke eingesetzt hat. Spannend ist auch das Leben und Schaffen von Maria Theresia Paradis (1759-1824), die trotz ihrer Blindheit eine große Konzertreise durch Europa als Pianistin unternahm und für das Komponieren eine eigene Notenschreibmaschine besaß. Oder die französische Chansonnière Barbara (1930-1997), die mit ihrem Lied „Göttingen“ einen wesentlichen Beitrag zur Völkerverständigung und Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges leistete. Das Boulanger Trio fand viele interessante Frauen, deren Musik gespielt und deren Geschichte erzählt gehören. Darum sind auf dem digitalen Album zwei weitere Künstlerinnen vertreten: Die Ikone Kate Bush, die fast nebenbei das Headset erfand, weil sie mehr Bewegungsfreiheit auf der Bühne brauchte. Und die armenische Sängerin Rosa Linn, die im Jahr 2022 TikTok zum Glühen brachte, als das Video mit ihrem Eurovision Song Contest Lied „SNAP“ viral ging.
So unterschiedlich die Geschichten der einzelnen Komponistinnen auch sind, sie vereint die leidenschaftliche Ausdrucksstärke ihrer Werke. Diese greift das Boulanger Trio auf und sorgt mit seiner mitreißenden Spielfreude und seinem wunderbaren Reichtum an Klangfarben dafür, dass diese Musik ihre Leuchtkraft voll entfalten kann. „Das Trio von Fanny Hensel beginnt mit einem unglaublich stürmischen ersten Satz, der voller Leidenschaft ist. Dann folgen ein berührender langsamer Satz und danach noch ein ganz schlichtes Lied. Während dann der letzte Satz ein kraftvoll virtuoses, rhapsodisches Finale ist“ schwärmt Ilona Kindt. Einen konkreten Unterschied zwischen den Werken von Komponistinnen im Vergleich zu denen männlicher Kollegen gibt es für das Boulanger Trio allerdings nicht. „Jeder Komponist und jede Komponistin hat eine eigene Sprache. Für uns steht im Vordergrund, diese individuelle Sprache zu entdecken, wenn wir ein Werk zum ersten Mal spielen. Das versuchen wir dann als Ensemble auf unsere Instrumente zu übersetzten.“ erklärt Birgit Erz, Violinistin des Trios. Und dennoch scheint sich ein melancholischer Ton durch dieses Album zu ziehen. „Bei der Auswahl der Stücke haben wir gar nicht darauf geachtet. Das viele Moll ist uns erst hinterher aufgefallen“, berichtet Birgit Erz. „Ich finde, dass der traurige Unterton den langsamen Dur-Sätzen der großen Trios des Albums etwas Friedliches verleiht. So entstehen ganz besonders beglückende Momente.“
Das Boulanger Trio ist eines der wenigen rein weiblich besetzten Ensembles. Geplant hatten sie das nicht. Es war einfach Liebe auf den ersten Blick. „Von Anfang an hatten wir drei eine starke Verbindung zueinander. Wir lieben die gemeinsame Arbeit, allem voran natürlich unsere Konzerte, aber auch die Proben, die gemeinsamen Reisen und was noch dazu gehört.“ sagt Ilona Kindt. „Es ist einfach ein tolles Gefühl miteinander zu spielen, wenn man sich wirklich blind versteht. Wir spüren den Atem der anderen, wissen genau, wie sie eine Stelle in dem Moment interpretieren möchte und gehen dann mit. Das ist einfach schön.“ ergänzt Karla Haltenwanger. Das erklärt, warum das 2006 gegründete Klaviertrio bis heute in seiner Ursprungsbesetzung besteht. Die drei Musikerinnen benannten ihr Trio nach den Schwestern Nadia und Lili Boulanger. Die außergewöhnlichen Persönlichkeiten und der kompromisslose Einsatz für die Musik der beiden Französinnen waren ausschlaggebend für die Namensgebung und sind bis heute eine große Inspirationsquelle für das Trio. Obwohl der Fokus bei diesem Album auf Komponistinnen liegt, ist es dem Boulanger Trio wichtig, dass Musik unabhängig vom Geschlecht wahrgenommen wird. Auch für ihre eigene Konzertreihe „Boulangerie“, in der sie zeitgenössische Musik präsentieren, ist es unerheblich, ob es sich um Werke von Frauen oder Männern handelt.
Die feinsinnigen Interpretationen des Boulanger Trios zeigen ein tiefes Verständnis für die Werke der für das Album ausgewählten Komponistinnen. Aufmerksam spüren sie in die jeweilige Klangsprache hinein. „Who’s afraid of…?“ ist aber nicht nur eine berührende Hommage an vergangene und gegenwärtige Komponistinnen. Das Album wirft auch ein Licht auf die allzu oft vergessenen Biografien dieser Künstlerinnen. Viel Platz für kreative Frauen!