Estelle Revaz
DIE HARMONIE DER FREIHEIT
Ein Capriccio ist immer ein kleiner, aber lustvoller Verstoß gegen die geltenden Normregeln. Es geht um den Einsatz von Fantasie und den spielerischen Einfallsreichtum, sowohl bei der Komposition als auch bei der Interpretation. Somit ist die Schweitzer Cellistin Estelle Revaz genau die Richtige für diese Musik. Sie ist neugierig, modern, sehr engagiert und der Tradition eng verbunden. Auf ihrem nunmehr sechsten Album beschäftigt sie sich mit den 11 Capriccios von Joseph Dall’Abaco. Dieser wurde im Jahre 1710 in Brüssel geboren. Schon früh entdeckte er das Cello für sich, bekam Unterricht bei seinem damals sehr berühmten Vater und wurde später, im Alter von 19 Jahren zum Hofcellisten am kurfürstlichen Bonner Hof ernannt. Um das Jahr 1770 herum komponierte er die 11 Capriccios für Cello Solo. Noch heute gelten sie unter Cellisten in vielerlei Hinsicht als Nachfolger der Cellosuiten von Johann Sebastian Bach. Joseph Dall’Abaco hat mit seinen 11 Capriccios ein bedeutendes Werk geschaffen, das auch heute noch beeindruckt. Sie sind weit mehr als nur bloße Übungsstücke, die von einem Cellisten für andere Cellisten geschrieben wurden. Diese Stücke zeigen nicht nur die technischen Fähigkeiten des Cellos, sondern auch sein großes dramatisches Potenzial. Es ist spannend zu sehen, wie Dall’Abaco die harmonischen Grenzen des Instruments erweitert, um es möglichst vielstimmig klingen zu lassen. Besonders bemerkenswert ist die Freiheit, die er den Musikern bei der Interpretation seiner Werke lässt.
Estelle Revaz kostet diese Freiheit in jedem Ton aus und kann zudem auch zeigen, was für eine technisch brillante Cellistin in ihr steckt. Denn jedes der 11 Werke birgt schwierigste Anforderungen, ähnlich denen für Violine von Paganini. Aber Estelle Revaz liebt es Hürden zu meistern und neue Aufgaben zu bewältigen. Dabei überzeugt sie sowohl in der Musik wie auch in der Politik. Als sie z.B. während der Coronoa-Pandemie in der Schweiz feststellte, wie die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler benachteiligt wurden, engagierte sie sich für eine Gesetzesänderung. Dies tat sie für alle so überzeugend und erfolgreich, dass sie seit den Schweizer Wahlen im Jahr 2023 im Nationalrat einen Sitz hat. Nun wechselt sie in aller Regelmäßigkeit zwischen Konzert- und Plenarsaal, setzt sich weiterhin für moderne Klassik-Programme ein, kämpft aber auch gleichzeitig für eine bessere Kulturpolitik. Für so ein Doppelleben muss man geboren sein und ein großes Kommunikationstalent besitzen. Obwohl Estelle Revaz schon mit 13 Jahren wusste, dass sie Cellistin werden wollte, hätte sie selbst nie gedacht, dass es für sie noch einen weiteren Berufsweg geben würde. Für sie selbst ist das wohl auch ein „Verstoß gegen ihre eigenen Normregeln“ gewesen, aber es war nötig „und irgendjemand muss es ja tun“, wie sie es verschmitzt ausdrückt. Manchmal, so berichtet das Schweizer Radio, hatte sie am Anfang in der Politik das Gefühl, niemand würde sie richtig ernst nehmen. Wie leicht würde sie als cellospielende Gauklerin wahrgenommen werden? Auf Französisch wäre das eine „Saltimbanque“. Aber Estelle Revaz drehte den Spieß einfach herum, ging auf die Menschen zu und schuf Vertrauen. Ihre Autobiographie, die beim Genfer Verlag Slatkine erschien, nannte sie ganz provokativ „La Saltimbanque“.
Estelle Revaz ist eine starke Frau unserer Zeit, sowohl in der Kunst als auch im Sozialen. Wenn sie sich für die Capriccios von Joseph Dall’Abaco stark macht, dann tut sie das mit derselben Hingabe, wie für ihre politischen Überzeugungen. Sie ist von dem unerschütterlichen Glauben beseelt, Dinge zu verändern und ihre Träume zu verwirklichen.