Gottlieb Wallisch
WILHELM GROSZ: EIN MUSIKER VON BEMERKENSWERTER VIELSEITIGKEIT UND WEITREICHENDEN EINFLÜSSEN
Der Wiener Pianist Gottlieb Wallisch macht sich seit vielen Jahren verdient, indem er verschollene Klaviermusik des frühen 20. Jahrhunderts aus Archiven, Privatsammlungen und durch die Hilfe vieler Freunde und Musikwissenschaftler ausgräbt, aufnimmt und veröffentlicht. Seine Album-Reihe „20th Century Foxtrots“ ist inzwischen bei Vol. 6 angekommen und auch seine Aufnahme der Klaviermusik von Jaromir Weinberger im Jahr 2022 wurde hoch gelobt – immerhin handelte es sich noch dazu noch um eine Ersteinspielung dieser Musik. Bei seinen Recherchen im Archiv der Universal Edition Wien stieß er auf Noten des eben in Wien geborenen Komponisten und Pianisten Wilhelm Grosz (1894-1939). „Nach und nach begann ich, mich mehr mit ihm auseinanderzusetzen, seine Lebensgeschichte zu erforschen und lernte dabei immer mehr seiner Werke kennen“ erzählt Gottlieb Wallisch. Inzwischen hat er Musik für mehr als ein Album zusammengetragen. Am 8. November 2024 erscheint nun Vol. 1 der Klaviermusik von Wilhelm Grosz beim Label Grand Piano. Größtenteils handelt es sich dabei um Ersteinspielungen seiner Musik.
„Die Erschließung seines Oeuvres war nicht so einfach, da sich neben dem Großteil, der heute im Nachlass bei Exilarte, dem Zentrum für Verfolgte Musik in Wien liegt, viele Werke auch in diversen Bibliotheken weltweit verstreut schlummern. Weiters benötigte ich Zeit, um zu verstehen, welche seiner Werke zu seinen Lebzeiten im Druck erschienen waren und welche nur handschriftlich überliefert sind“ beschreibt Gottlieb Wallisch seine langjährige Arbeit. Er weiß auch, dass viele Konzerte damals mit den handschriftlichen Noten aufgeführt wurden. Leider musste er feststellen, dass das ein oder andere Werk heute verschollen ist. „Das betrifft leider auch Grosz’ Opus 1, Variationen über ein Thema von Grieg für Klavier, das 1913 im Wiener Konzerthaus uraufgeführt wurde“ fügt er hinzu.
Wilhelm Grosz, der aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammte, erhielt seine musikalische Ausbildung bei bedeutenden Persönlichkeiten des Wiener Musiklebens. Zu seinen Lehrern zählten Franz Schreker, Richard Robert, der „Opernball“-Komponist Richard Heuberger, Robert Fuchs und Guido Adler. Unter Adler, dem Begründer der Wiener Musikwissenschaft, promovierte Grosz 1920 zum Dr. phil. mit einer Dissertation zur Fugenarbeit in Mozarts Vokal- und Instrumentalwerken. Wilhelm Grosz gehörte zweifellos zu den vielseitigsten Talenten unter seinen Komponistenkollegen im universalistischen Sinne. Sein kompositorisches Schaffen umfasste nahezu alle musikalischen Gattungen: Symphonik, Oper, Operette, Kammermusik, Lied, Kabarett, Bühnen-, Film- und Radiomusik (Funkoperette), Schlager – sowie selbstverständlich Werke für Klavier solo. Auch sein letztes vollendetes Werk, die „12 Improvisations, op. 45“, die auf diesem Album erstmals zu hören sind, ist für Klavier geschrieben. Sie stammen aus dem Jahr 1939, ganz kurze Zeit vor seinem plötzlichen Tod im Alter von nur 45 Jahren in New York City. Gottlieb Wallisch war von Anfang an begeistert von der Musik, die er da plötzlich in Händen hielt: „Grosz hatte unermessliches Talent, war sehr anpassungsfähig und flexibel. Sein Selbstbewusstsein wurde sicher auch durch unglaubliche Erfolge in jungen Jahren gesteigert. Er war ein ausgezeichneter Pianist, sein Schreibstil lässt einen umfassenden Virtuosen am Flügel erahnen. Die orchestrale Fülle und die klangliche Opulenz beeindrucken mich, ich sehe ihn da klar von seinem Lehrer Franz Schreker geprägt. Die meisten seiner Werke sind äußerst anspruchsvoll, klar charakterisiert und strahlen viel Selbstbewusstsein und Können aus.“
Bei seinen Recherchen wurde er vor allem vom Musikwissenschaftler Dr. Thomas Gayda unterstützt, mit dem er dann auch zusammen den Booklet-Text zu diesem Album verfasst hat. Gayda hat sich nicht nur über Jahrzehnte mit Wilhelm Grosz beschäftigt, er steht auch mit der Enkeltochter in New York im direkten Austausch. „So erschlossen sich mir viele spannende biographische Details zu Grosz, insbesondere seiner abwechslungsreichen Tätigkeit in den späten 20er-Jahren in Berlin als Produzent, Arrangeur und Dirigent für die neugegründete Plattenfirma „Ultraphon“ (die später zur weltbekannten „Telefunken“ werden sollte). Aber auch über seinen Gang ins Londoner Exil 1934 und nach New York 1938 konnte ich einiges erfahren“ berichtet Gottlieb Wallisch. Für ihn war Grosz mit seinen Kompositionen immer am Puls der Zeit, obwohl er nie, wie einige seiner Zeitgenossen, in die Atonalität abgebogen ist. Gerade die Londoner Zeit ist ein sehr spannender Lebensabschnitt von Grosz. Dort komponierte er nämlich sehr erfolgreich Schlagermusik und es entstanden Hits, die manche heute noch kennen wie „Red Sails in the Sunset“, „Harbour Lights“ und „Isle of Capri.
Die Klaviermusik von Wilhelm Grosz ist es allemal wert entdeckt zu werden. Gottlieb Wallisch hat wieder einmal eine sehr wichtige, aber auch wunderbar schöne Arbeit geleistet. Er folgt mit großer Freude seinem Drang, die unbekannte Musik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entdecken und sein Repertoire zu erweitern. „Dass es sich hierbei zumeist um vertriebene oder verbotene Komponistinnen und Komponisten handelt, ist eigentlich ein tragischer Umstand, der beweist, wieviel an kultureller Vielfalt vernichtet und unterdrückt wurde und wie groß diese Lücke bis heute ist. Es berührt mich nicht nur, die vergessene Musik zu spielen, sondern auch die Biographien zu verstehen, die einzelnen Lebenswege und Schicksale nachzuvollziehen.“ Wie schön, dass wir als Hörerinnen und Hörer daran teilhaben dürfen.