Matthias Kirschnereit
Württembergisches Kammerorchester Heilbronn
As Time Goes By…
Wenn der Pianist Matthias Kirschnereit die Aufgabe hätte, sein Leben und seine bisherige Karriere in Musik auszudrücken, dann würde wohl genau diese „Playlist“ dabei herauskommen. Jedes einzelne der 36 Stücke dieses Doppel-Albums birgt eine persönliche Geschichte und wurde von ihm ausgewählt, weil damit Erinnerungen und Begebenheiten verbunden sind. „Für mich war und ist die Beschäftigung mit Time Remembered eine ungemein spannende Reise durch knapp 400 Jahre Musikgeschichte mit unterschiedlichsten Genres und Stilen“ erklärt Matthias Kirschnereit im Booklet des Albums. Dabei reicht die lange Liste der Komponisten von Bach, Bussoni, Bruckner das Alphabet abwärts über Händel, Janáček, Ligeti bis hin zu Rachmaninow, Satie und Bill Withers. Das Doppel-Album bietet somit auch einen sehr privaten Einblick in das Leben von Matthias Kirschnereit.
Wenn man auf das Leben und die bisherige Karriere von Matthias Kirschnereit von außen schaut, entdeckt man viele Wendepunkte, Ecken und Kanten, sowie den steten Drang sich mit Musik auszudrücken. Erster Wendepunkt war sicherlich die Tatsache, dass er im Jahr 1971, im Alter von neun Jahren, mit seinen Eltern von Norddeutschland nach Namibia in Afrika umzog. Sein Vater war Pastor und erhielt dort eine Stelle. Natürlich spielte der junge Matthias schon Klavier, aber während seine Altersgenossen in Europa schon an Klavierwettbewerben teilnahmen, spielte er auf einem elektronischen Piano, das an eine Autobatterie angeschlossen werden musste. Im Radio wurden die Beatles mit „Here comes the Sun“ gespielt und die Liberation Group lieferte mit dem Song „Namibia“ den passenden Soundtrack zur Unabhängigkeitsbewegung. Matthias Kirschnereit hörte die Bach-Interpretationen von Dinu Lipatti auf dem Schallplattenspieler seiner Eltern und wollte zusammen mit zwei Freunden eigentlich das „Namibia Trio“ gründen. Doch kurz darauf folgte der nächste Wendepunkt. Er ging im Alter von 14 Jahren allein, ohne Eltern zurück nach Deutschland, um sich an der Hochschule für Musik in Detmold als Jungstudent einzuschreiben. „Es war ein Schock, zu sehen und zu hören, was meine Alterskollegen bereits alles spielen konnten“, erinnert er sich. Doch der Schritt tat ihm gut. Sein musikalischer Horizont erweiterte sich schlagartig, er entdeckte Debussy und Clara Schumann, Händel und auch den Jazzpianisten Bill Evans. Kirschnereit setzte alles auf eine Karte, wollte unbedingt Pianist werden und ging ohne Abitur vom Gymnasium ab. An das abschließende Gespräch mit seinem damaligen Direktor erinnert er sich heute noch mit einem Schaudern, aber auch mit einem verschmitzten Augenzwinkern. Dieser prophezeite ihm nämlich völlig empört, dass er allerhöchstens Klavierlehrer werden würde… Womit er nicht ganz Unrecht behalten sollte. Dass Matthias Kirschnereit allerdings mehr als 25 Jahre als Professor an der Hochschule für Musik & Theater Rostock lehren würde – und dort heute immer noch ein begehrter Karriereförderer für junge Talente ist – hatte er dabei wohl nicht im Sinn.
Heute, nach fast 50 CD-Einspielungen, mehreren tausend weltweit gespielten Konzerten, Auszeichnungen und Preisen, ist Matthias Kirschnereit immer noch auf der Suche nach Neuem, nach Herausforderungen und Aufgaben. Seit mehr als 10 Jahren leitet er das Sommerfestival „Gezeitenkonzerte“ in Ostfriesland und holt namhafte Kollegen, wie z.B. Grigory Sokolov, Helge Schneider oder Sharon Kam an die Nordseeküste. In der Alten Oper Frankfurt lädt er unter dem Titel „Kirschnereits KlavierKosmos“ Pianisten wie Daniil Trifonow oder Evgeny Kissin zum Gespräch vor ihren Auftritten ein. Auf SWR2 moderierte er schon mehrere Male eigene Sendereihen über die Klaviermusik von Mozart und Mendelssohn. In seiner Wahl-Heimatstadt Hamburg wurde er kürzlich zum Präsidenten der Johannes-Brahms-Gesellschaft gewählt und kümmert sich um den Erhalt und die Pflege des musikalischen Erbes. All diese Tätigkeiten erzeugen eine Offenheit für Musik, auch weit über den Tellerrand der Klassik hinaus. Konzertreisen nach Asien, vor allem Japan, waren und sind immer wieder große Highlights für den Pianisten. In Japan besuchte er in den 90ern die Komponierstube von Toru Takemitsu und brachte von dort das Stück „Rain Tree Sketch II“ mit. Von einem Freund, bei dem er in Japan wohnen durfte, lernte er das Stück „Graceful Ghost Rag“ von William Balcon kennen. Auch diese musikalische Erinnerung befindet sich nun auf dem vorliegenden Doppel-Album.
Wahrscheinlich wäre die Titel-Liste noch länger geworden, denn wer so viel in der Welt herumkommt, Freunde auf allen Kontinenten, und mit so vielen musikalischen Partnern gespielt hat wie Matthias Kirschnereit, kann unzählige Geschichten erzählen. Einige davon hat er zu jedem einzelnen Track im Beiheft dieser Aufnahme angerissen.
Das Album trägt den Titel „Time Remembered“ und beginnt auch mit gleichnamigem Titel von Bill Evans. Mit „As Time goes by“ von Herman Hupfeld aus dem Filmklassiker Casablanca, ein Film, den Matthias Kirschnereit mehr als ein dutzend Mal gesehen hat, schließt die Aufnahme. Die Zeit spielt auf diesem Doppel-Album eine erhebliche Rolle. Es geht um Vergangenes, aber auch um das Jetzt und Hier. Dazu schreibt Matthias Kirschnereit im Booklet: „»Alles hat seine Zeit« heißt es im Alten Testament – und so reflektiert die Musik dieses Albums zudem das Phänomen »Zeit« schlechthin. Dabei geht es um gelebte und geträumte Zeit, verliebte und erhoffte Zeit, erlittene und verlorene Zeit, die Zeit der Veränderungen, der Freiheit, des Jubels und der Dankbarkeit, und natürlich auch die Zeit für ein Augenzwinkern!“