Ragnhild Hemsing
VIVALDI IN VALDRES
Die Norwegerin Ragnhild Hemsing widmet sich auf diesem Album, zusammen mit dem Alte Musik Ensemble Barokkanerne den berühmten Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi (1678-1741) und macht daraus „The Norwegian Seasons“ – ein einzigartiges Klangerlebnis, das weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze aufzeigt.
Ragnhild Hemsing hat inzwischen eine erstaunliche Karriere gemacht. Sie wird in ganz Europa als feinsinnige Violinistin wahrgenommen, gilt aber inzwischen auch als „die“ Expertin für traditionelle, norwegische Musik. Das liegt sicherlich daran, dass sie auf ihren bisher vier Alben, die sie bei Berlin Classics veröffentlicht hat, immer wieder zur Hardangerfiedel greift. Es ist das Nationalinstrument Norwegens und wurde Mitte des 17. Jahrhunderts in der Region Hardanger erfunden. Dieses Instrument hat einen unverwechselbaren Klang, der durch die fünf zusätzlichen Saiten hervorgerufen wird, die nicht gestrichen werden, aber beim Spielen mitschwingen.
Die Vier Jahreszeiten von Vivaldi aus dem Jahr 1723 gehören zu den bekanntesten und am häufigsten aufgeführten Werken der Musikgeschichte. Auch Ragnhild Hemsing hat sie schon oft auf der normalen Geige gespielt. Da sie aber von Haus aus sowohl in der klassischen als auch in der Volksmusiktradition verwurzelt ist, fragte sie sich: „Wie würden diese populären Konzerte klingen, wenn sie auf einer Hardangerfiedel gespielt werden?“ Bei ihren Nachforschungen und Überlegungen entdeckte sie viele Gemeinsamkeiten zwischen Vivaldis Musik und der Volksmusik aus der Region Valdres, ihrer Heimat, in der sie heute noch mit ihrer Familie lebt. „Da gibt es überall diese reichen Verzierungen und Improvisationen, schöne Melodien und den rhythmischen Schwung“ erklärt sie und fügt hinzu: „Mit meiner Vivaldi-Aufnahme möchte ich eine neue musikalische Herangehensweise an die Vier Jahreszeiten aufzeigen, indem ich die Hardangerfiedel als Barockinstrument benutze und Verzierungen und die speziellen Triller aus meiner eigenen Volksmusiktradition in Valdres spiele, die seit Jahrhunderten parallel zur Barocktradition lebt.“ Dafür hat sie sich, wie schon bei anderen Aufnahmen zuvor, mit dem Komponisten Tormod Tvete Vik zusammengetan und die Violinstimme aus Vivaldis Originalpartitur bearbeitet. Die Orchesterbegleitung wurde parallel dazu vom Ensemble Barokkanerne bearbeitet. Diese Aufgabe entpuppte sich als gar nicht zu kompliziert, denn auch Vivaldi ließ sich bei der Komposition seiner „Le quattro stagioni“ von Volksmusik, in seinem Falle natürlich der italienischen, inspirieren. Die Musik ähnelt der norwegischen Variante bisweilen verblüffend. Das ist vielleicht gar nicht so überraschend, wenn man bedenkt, wie viele gegenseitige Befruchtungen es gegeben hat. „Ich bin mir zum Beispiel sicher, dass die Forschung eine enge Verwandtschaft zwischen der Hardangerfiedel und der Viola d’amore aufzeigen wird“, erklärt Ranghild Hemsing „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Hardangerfiedel, obwohl sie ein Volksmusikinstrument ist, mit ihren sympathischen Unterstimmen und ihrem individuellen Klang, Norwegens „eigenes“ Barockinstrument ist.“
Um diese Barock-Verbindungen noch mehr zu betonen, hat Ragnhild Hemsing weitere Kompositionen in das Album eingeflochten. Da ist z.B. das Präludium des dritten Aktes der Oper Alcione des französischen Barockkomponisten Marin Marais (1656-1728). Auch hier übernimmt die Hardangerfiedel die Rolle einer Viola da Gamba und kann wunderbar verzieren und die gesangsformen imitieren. Dem gegenüber stehen drei traditionelle Volksmelodien aus der Region Valdres. Zunächst ein Lydarlått – ein Lauschlied – aus Sør-Aurdal; dann ein Springar, „Fanteladda“, im 3/4-Takt und schließlich ein Halling, „Røyskatten“ – „das Wiesel“ – im 2/4- oder 6/8-Takt.
Um der Aufnahme einen Bezug zur heutigen Zeit zu geben, hat Ragnhild Hemsing bei der 1981 geborenen norwegischen Komponistin Agnes Ida Pettersen ein Werk in Auftrag gegeben. Die „Fantasi“ wurde eigens für Ragnhild Hemsing und Barokkanerne im Jahr 2022 für das Festival für Alte Musik „Oslo Early“ komponiert. Hier, wie auch auf dem gesamten Album, ist die Verbindung von Hardangerfiedel und dem Ensemble eine aufregende Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart. Die Instrumente und der Stil, mit dem sie gespielt werden, sind beide Jahrhunderte alt, aber Pettersens fantasievolle Komposition eröffnet viele neue Möglichkeiten.
Bei der Aufnahme verwendete Ragnhild Hemsing drei verschiedene Hardangerfiedeln. Die eine – und berühmteste Fiedel – ist das Original-Instrument des norwegischen Violinisten und Komponisten Ole Bull (1810-1880). Er wurde von seinen Zeitgenossen auch der „Paganini des Nordens“ genannt. Das Instrument wurde vom legendären Geigenbauer Erik Johnsen Helland speziell für Bull gebaut. „Sie wurde später von mehreren lokalen Geigern gespielt und ist jetzt im Besitz der Stiftung Dextra Musica, die mir großzügigerweise erlaubt, sie als Dauerleihgabe zu spielen“ erzählt Ragnhild Hemsing sehr stolz. „Die beiden anderen Geigen, die ich spiele, sind neueren Datums. Beide wurden von Anders Aasen, Norwegens führendem Geigenbauer des zwanzigsten Jahrhunderts, gebaut. Eine ist von 1976, die andere von 1980.“
Diese aufregende Begegnung zwischen italienischer Barockmusik und norwegischer Volksmusik ergibt ein Programm, das in der Musikgeschichte seinesgleichen sucht.